Die Bundesregierung zeigt Anzeichen des beginnenden Aktionismus. Aber die wahre Zahl der Messerangriffe soll offenbar nicht bekannt werden. Statt 8.000, wie zahlreiche Medien kolportieren, gab es letztes Jahr mehr als 21.000 Messerangriffe in Deutschland. Das sind fast 60 jeden Tag.
Im April präsentierte der BKA-Präsident Holger Münch zusammen mit Innenministerin Faeser die PKS für das Jahr 2022. Doch die Zahl der Messerangriffe in Deutschland, die damals angegeben wurde, war zum einen unklar, zum anderen offenbar geschönt. Das zeigt ein Blick auf die Zahlen aus den Bundesländern.
In Nordrhein-Westfalen gab es am vorletzten Samstagabend die „erste Kontrollnacht gegen Messergewalt“. Obwohl es so ähnlich klingt, sollte man wohl nicht von einer „langen Nacht der Messer“ sprechen – vergleichbar der „Langen Nacht der Museen“. Das wäre eine Verharmlosung. Denn das Problem beherrscht nicht nur NRW in zunehmendem Maße. Großaufgebote der Landespolizei versammelten sich in Düsseldorf (250 Beamte), Dortmund (200), Köln (300) und anderen Brennpunkten der Messergewalt an Rhein und Ruhr.
Innenminister Herbert Reul (CDU) kommentierte das in durchaus launiger Art: „Mit was die Leute rumrennen, wenn sie feiern wollen, ist mir schleierhaft. Messer gehören in die Küche, aber nicht zum Feiern.“ So einfach ist das und könnte es sein. Seine Suchaktion nach verbotenen Messern will er wiederholen, da könne man „ganz sicher sein“. Gesucht wurde auch nach Schuss- und Schlagwaffen. Und man wurde auch fündig: 46 Messer wurden sichergestellt, neben 14 weiteren verbotenen Waffen. Es folgten 73 Strafanzeigen und sogar 15 vorläufige Festnahmen.
Die Bundesinnenministerin, Nancy Faeser (SPD), will bekanntlich ein allgemeines Messerverbot in Bus und Bahn vorschlagen. Aber das Vorgehen der NRW-Polizei zeigt, dass man schon jetzt eine Handhabe hätte, wenn man wollte. Auch Reul hält Faesers Vorschlag für eine „flotte Idee“, bei deren Umsetzung durch die Bundespolizei er ihr viel Glück wünscht.
Wunder des Föderalismus
Aber bei diesem Anlass – eigentlich bei so vielen anderen Anlässen – kann man sich durchaus noch einmal die Daten anschauen, die das Bundeskriminalamt (BKA) und die Landeskriminalämter uns zu dem vielbesprochenen Thema Messergewalt liefern. Die Daten sind nicht überall gleich vollständig. Aber insgesamt ergibt sich ein Bild, das geeignet ist, zu beeindrucken. Am meisten schockiert allerdings eines: Das Ausmaß der Messerangriffe in Deutschland ist keineswegs bekannt.
Trotz zahlloser Kriminalstatistiken von Bund und Ländern, Städten und Regionen kennen wir die wahre Zahl der Messerangriffe nicht, um von Messerstraftaten zu schweigen. In einem Bericht der Innenministerkonferenz zur Polizeilichen Kriminalstatistik 2022 (Ausgewählte Zahlen im Überblick) ist von 8.160 Messerangriffen bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung die Rede. Diese Zahl wird seither in verschiedensten Medien gern als die Zahl der Messerangriffe in Deutschland herumgereicht, ist aber keineswegs die ganze Botschaft, die die vereinigten Innenminister – in freilich sehr vorsichtiger Form – im April unters Volk brachten. Im selben Bericht wird daneben noch eine weitere „Messerangriff-Zahl“ genannt, nämlich die „Messerangriffe bei Raubdelikten“, die 2022 bei 4.195 lagen.
Schon diese Zahl wird von vielen Medien weggelassen, als verstünden sie nicht, dass man auch bei einem Raubdelikt mit einem Messer angegriffen werden kann. Das geschah sogar in 11 Prozent aller Raubdelikte, dasselbe gilt für 5,6 Prozent aller gefährlichen und schweren Körperverletzungen. Addiert man beide Kategorien, so kommt man auf 12.355 Messerangriffe im letzten Jahr, also fast 34 Taten am Tag bundesweit. Aber auch das ist keineswegs das ganze Bild.
Zählt man alle durch Veröffentlichungen der Landeskriminalämter bekannten Zahlen für Messerangriffe in den betreffenden Bundesländern zusammen, dann erhält man eine Zahl von über 21.000 Messerangriffen in ganz Deutschland im Jahr 2022. Das ist dabei die Untergrenze des Phänomens, weil einige Länder nicht sehr offen mit den Zahlen umgehen und man fragen kann, warum einige „Messertaten“ nicht relevant genug sind, um als Angriffe geführt zu werden. Presseanfragen könnten derlei Probleme kurieren. Aber an sich müssten Zahlen von solchem öffentlichen Interesse transparent veröffentlicht werden.
Gehen wir die Länder einmal durch: Allein in Berlin gab es laut Landeskriminalamt im vergangenen Jahr 3.317 Messerangriffe. Das sind neun pro Tag und 90 Angriffe pro 100.000 Einwohner, zugleich der bundesweite Spitzenwert, was die Dichte des Phänomens betrifft. 2009 waren es laut Pressemeldung noch unter 2.400 Angriffe in der Hauptstadt.
In Baden-Württemberg gab es letztes Jahr 2.727 Messerangriffe mit 3.308 Opfern, also 7,5 Taten und neun Opfer pro Tag. 2022 gab es dort demnach etwa 25 Messerangriffe pro 100.000 Einwohner.
Als „Messer“ gelten in Baden-Württemberg alle Arten von Haushalts- und Küchenmessern, Klappmessern, Spring- und Fallmessern, Butterfly- und Taschenmessern, aber auch Stilette und Dolche, Ahlen und Bajonette, wie die Bild schon 2020 berichtete. Damals war übrigens noch von „Messerstraftaten“ die Rede, und der damalige Sprecher des Innenministeriums wusste eine deutlich höhere Zahl für das Ländle zu berichten, nämlich 6.073 Straftaten mit dem Tatmittel Messer im Jahr 2018. Auf TE-Nachfrage ergibt sich, dass dies Messerstraftaten waren, während die Messerangriffe damals noch bei 1.763 lagen,, also eher ein Verhältnis von 1:3. Was das Jahr 2022 anbelangt, sind hier in 6.715 Messerstraftaten „nur“ 2.727 Messerangriffe enthalten. 48 Prozent der Messerangreifer hatten einen deutschen Pass. Unter den restlichen 52 Prozent der Täter im Jahr 2022 dominieren Syrer, Türken, Rumänen, Afghanen und Iraker.
Im schon genannten, auf diesem Feld (auch PR-technisch) eher hyperaktiven Nordrhein-Westfalen gab es laut Innenminister Herbert Reul 4.191 Messerangriffe im Jahr 2022, wobei der Minister einen Rückgang um fünf Prozent vermeldete. Ein Bericht stellt allerdings klar, dass es sogar 5.100 Angriffe mit dem „Tatmittel Stichwaffe“ gebe. Doch das entspricht leider immer noch mehr als 14 Stichwaffenangriffen pro Tag und 28 Angriffen pro 100.000 Einwohnern.
In Niedersachsen kam es schon 2020 zu 2.377 Messerattacken. Inzwischen sind es laut Innenministerium 2.804 Angriffe (= 35 pro 100.000 Einwohner). Die PKS der Region Hannover berichtet von einem Anstieg des Delikttyps um 33 Prozent. Aber auch landesweit gibt es eine deutliche Steigerung (+ 26 Prozent seit 2019). So viel nur zu einigen der größten Länder, die knapp die Hälfte der Bevölkerung umfassen.
Das BKA darf offenbar nicht alle Zahlen nennen
Irgendetwas kann also nicht stimmen mit der Zahl, die Nancy Faeser in der Pressekonferenz mit BKA-Chef Holger Münch verkündete und die seither in der Presse herumgereicht wird. Lassen wir den Taschenspielertrick mit den zwei Deliktgruppen einmal beiseite. Aber auch die Summe der beiden – angeblich nur 12.355 Messertaten im Jahr bundesweit – kann nicht stimmen, weil die Länderzahlen anderes zeigen. Auf Nachfrage bestätigt das BKA, dass hier Kategorien weggelassen wurden und auch nicht genannt werden können (!).
Eine Gesamtzahl der Messerangriffe in Deutschland soll demnach nicht an die Öffentlichkeit kommen. Und die Formulierungen aus dem BKA lassen nur einen Schluss zu: Ein Maulkorb wurde verhängt. Zahlen, die auf Länderebene in einer Art Salamitaktik herausgegeben werden, sollen in der Summe verschwiegen werden. Scheuen die Landesinnenminister die Gesamtbilanz der Sicherheitslage in Deutschland? Aber die Zahlenhoheit für die Bundeszahlen liegt offenbar bei einer anderen Akteurin. Nennen wir sie einfach einmal die Bundesregierung.
Allein in Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gab es mehr als 12.000 Messerangriffe im letzten Jahr! Das macht bereits 33 pro Tag, wobei in diesen vier Bundesländern knapp 50 Prozent der Bevölkerung leben. Muss man diese Zahl also verdoppeln? Tatsächlich ergibt sich bei einer Überschlagung aller aus den Ländern bekannten Zahlen eine Gesamtsumme von mehr als 21.000 Messerangriffen im Jahr 2022. Womit noch nicht einmal alle Messerstraftaten – also Straftaten mit dem „Tatmittel Messer“ – gemeint sind.
Von denen gab es 2018 wie 2022 in Baden-Württemberg mehr als doppelt so viele, nämlich im letzten Jahr 6.715, wie das Stuttgarter Innenministerium TE auf Nachfrage mitteilte. Dazu gehören Straftaten, bei denen das Messer als „Tatmittel“ auftauchte, die aber nicht als Angriff eingeordnet wurden. Dabei sind auch Bedrohungen mit dem Messer zu den Messerangriffen zu zählen.
Bayern kann nichts über Nationalitäten sagen
Bayern gehört zu den Ländern, aus denen weder in der Presse noch in Landesveröffentlichungen leicht ersichtlich ist, welches Ausmaß die Messergewalt dort inzwischen angenommen hat. Auf die Nachfrage im Landeskriminalamt folgt aber eine schnelle Antwort: Demnach gab es im Jahr 2022 insgesamt 607 Messerangriffe, darunter 431 im Zusammenhang mit gefährlicher und schwerer Körperverletzung (im Gegensatz etwa zu Raub, Vergewaltigung, sexueller Nötigung usw.). Das wären 4,5 pro 100.000 Einwohner und damit der mit Abstand niedrigste Wert in der gesamten Republik. Eine Auskunft zu den Staatsbürgerschaften der Täter ist in Bayern nicht möglich, weil es generell keine „individuelle Zuordnung“ zu Tätern oder Opfern gebe. Das sind offenbar statistische Erwägungen. In anderen Bundesländern war diese Auswertung der Zahlen machbar.
In Hessen gab es laut LKA 566 Messerangriffe im Jahr 2022 (das wären neun pro 100.000 Einwohner). Aber auch hier heißt es Vorsicht: Allein in Frankfurt am Main gab es schon vor einiger Zeit mehr als 400 Messerangriffe im Jahr. In Rheinland-Pfalz gab es laut Antwort der Landesregierung auf eine AfD-Frage 436 Messerangriffe im Jahr 2022 (fast elf pro 100.000 Einwohner).
In Sachsen waren es laut LKA 1.126 Messerangriffe (= 28 pro 100.000 Einwohner). In Schleswig-Holstein gab es laut Innenministerium 909 Messerangriffe im vergangenen Jahr (= 31 pro 100.000 Einwohner), das waren 100 mehr als im Vorjahr. Von 1.148 Opfern „wurden 14 getötet, 62 schwer und 239 Opfer leicht verletzt“. 37 Prozent der Täter waren ohne deutsche Staatsangehörigkeit.
Folge einer Festlegung: Einige Messerstraftaten fallen unter den Tisch
Im rot-rot-grün minderheitsregierten Thüringen gibt es ein kommunikatives Chaos erster Güte. Aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der CDU von 2022 scheint hervorzugehen, dass es im Freistaat noch 2021 zu 124 Messerangriffen verschiedenster Art kam (also sechs pro 100.000 Einwohner). Doch wo es um die Aufklärungsquote geht, spricht das Innenministerium auch gerne von den 940 Messerstraftaten im Jahr 2021 (also 45 pro 100.000 Thüringer). Zu den Straftaten mit Messer zählt auch der Diebstahl, bei dem ein Messer nur „mitgeführt“ wird – aber ja doch einsatzbereit gegen die Bestohlenen ist. In der Landes-PKS hat das LKA Thüringen die Delikte mit Schusswaffenverwendung dokumentiert, aber eine offizielle Zahl zu Messerangriffen im Jahr 2022 sucht man dort vergebens.
Die bundeseinheitliche Definition lautet übrigens beim BKA so (Polizeiliche Kriminalstatistik 2022 – Ausgewählte Zahlen im Überblick, S. 15): „Messerangriffe im Sinne der Erfassung von Straftaten in der PKS sind solche Tathandlungen, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird. Das bloße Mitführen eines Messers reicht hingegen für eine Erfassung als Messerangriff nicht aus.“
Das BKA teilte TE dazu auf Nachfrage mit: „Vor dem Hintergrund des Anstiegs von Straftaten unter Verwendung des Tatmittels ‚Messer‘ hat sich die Innenministerkonferenz auf ihrer 208. Sitzung vom 6. bis 8. Juni 2018 dafür ausgesprochen, als Grundlage für eine valide und verbesserte Darstellung der Kriminalitätslage und der daraus resultierenden Handlungserfordernisse, Messerangriffe zukünftig bundeseinheitlich statistisch zu erfassen.“
Leider folgte aus dieser Festlegung kein vollständiger Bericht über das wachsende Phänomen Messergewalt und Messerangriffe durch IMK und BKA. Auch dazu ist übrigens die Fixierung auf die „Messerangriffe“ gut: Die übrigen „Messerstraftaten“, die auch aus den Polizeiakten zu rekonstruieren sind und mehr als doppelt so häufig sein können, fallen unter den Tisch.
In Hamburg pflegt man eine offene Doppelrechnung
Das offizielle Hamburg berichtet von einem Rückgang der Messertaten auf 629 (also immer noch 34 pro 100.000 Einwohner). Noch im letzten Jahr hatte der Senat laut Presseberichten eher einen Anstieg auf insgesamt 1.150 Taten vorausgesehen (also 62 pro 100.000 Hamburger). Das wäre eine leichte Steigerung gegenüber den 1.111 Messerangriffen im Jahr 2020 gewesen. Das Kunststück besteht hierin: Im neuen Jahr zählte die Hamburger Polizei die Bedrohungen mit einem Messer einfach nicht mit. So kann man sich eine Lage auch nachträglich schönrechnen. Denn die „Androhung“ einer Straftat wird von der bundeseinheitlichen Definition ja umfasst.
Auch in Mecklenburg-Vorpommern geschieht aktuell mehr als ein Messerangriff am Tag. Das macht aufs Jahr gerechnet noch einmal mehr als 365 Fälle. Das wären dann 23 pro 100.000 Einwohner. In Sachsen-Anhalt gab es 983 Messerangriffe bei deutlich steigender Tendenz (+10 Prozent; 45 pro 100.000 Einwohner), in Brandenburg 693 bei leicht sinkender Tendenz (= 27 pro 100.000 Brandenburger).
Aus Bremen meldet die Innenbehörde 453 Messerangriffe für das Jahr 2022 – also 80 pro 100.000 Einwohner, das ist der zweite Platz bundesweit. Und das vielleicht nur deswegen, weil die Bremer es ehrlich mit uns meinen. Im Saarland waren es 319 Messerangriffe (= 33 pro 100.000 Einwohner). Im übrigen gilt: Wo immer die Staatsangehörigkeiten der Täter berichtet werden, sind die ohne deutschen Pass stets überrepräsentiert, wo nicht in der Mehrheit. Es geht dabei nicht um die Personen mit Migrationshintergrund, sondern offenkundig nur um die nicht eingebürgerten Ausländer.
Zählt man nun alles zusammen, was die Länderstatistiken an dieser Stelle hergeben, kommt man dazu, dass die „bundeseinheitlich“ erhobene Zahl der Messerangriffe offenbar sehr unvollständig ist. Das BKA gibt sich entsprechend wortkarg. Die Gesamtzahl der Angriffe mit dem Tatmittel Messer – wozu natürlich auch die Androhung des Zustechens gehört – liegt nicht bei 12.355, sondern fast doppelt so hoch. Ein BKA-Sprecher hat eingeräumt, dass im Bericht der Innenministerkonferenz zur PKS 2022 nicht sämtliche Messerangriffe berichtet werden. Vielmehr wurden hier nur zwei Deliktgruppen herausgegriffen. Die wahre Zahl der Messerangriffe in Deutschland kann auf über 21.000 geschätzt werden. Es gab also fast 60 Messerangriffe pro Tag.
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Länderzahlen zeigen: Es gab mehr als 21.000 Messerstraftaten im vergangenen Jahr
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