Das neue Digitalgesetz der EU soll dafür genutzt werden, Aufrufe zur Revolte in sozialen Medien zu löschen. Eine französische Idee? Eher eine deutsche. Vorbild war das NetzDG. Der zuständige EU-Kommissar meint, dass Plattformen wie TikTok und Snapchat nicht genug getan haben, als Frankreich brannte.

In den sozialen Medien trendete dieser Tage das Wort „Französien“, weil zwei jugendliche Musikproduzenten (?) zwar die eine Hand strikt im Hosenbund behielten, dabei aber nicht ausreichend sprachsicher waren. In der wirklichen Welt hat Frankreich noch nicht aufgegeben. Vielmehr schwappt nun ein politisches Gespräch über soziale Medien, Netzwerke oder Plattformen aus Frankreich in die EU-Diskussion.

Der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen Thierry Breton, einst für gut zwei Jahre Finanzminister unter Präsident Chirac, machte deutlich, dass Plattformen wie Snapchat oder TikTok während der jüngsten Unruhen nicht genug für die öffentliche Sicherheit in Frankreich getan hätten. „Sie werden mehr tun müssen“, sagte Breton im Fernsehsender France Info. Ab dem 25. August soll vieles nicht mehr möglich sein in den sozialen Netzwerken, und zwar nicht nur in Frankreich, sondern EU-weit. An diesem Tag entfaltet das EU-Gesetz über digitale Dienste (GdD; Englisch: Digital Services Act, DSA) der EU seine Wirkung auf 19 „sehr große“ Online-Plattformen und Suchmaschinen.

Die Auswirkungen beschreibt Thierry Breton so: „Wenn es hasserfüllte Inhalte gibt, die zum Beispiel zur Revolte aufrufen, die zum Töten oder zum Anzünden von Autos aufrufen, sind sie (die sozialen Netzwerke) verpflichtet, diese Inhalte sofort zu löschen. Wenn sie dies nicht tun, werden sie sofort bestraft.“ Sofort? Die EU scheint auch dazu einen Weg gefunden zu haben. Als Strafen werden Geldbußen von bis zu sechs Prozent des weltweiten Umsatzes gegen die Big-Tech-Unternehmen genannt. Sollten sie weiterhin Anlass für Beschwerden bieten, müssten die Plattformen am Ende sogar mit einer Abschaltung „auf unserem Territorium“ rechnen, so Breton mit unklarem Bezug.

Meta hat bereits 1.000 neue Mitarbeiter für Löscharbeiten eingestellt

Meint er Frankreich oder die EU insgesamt? Besitzt der Staatenbund ein Territorium? Sei das, wie es will. Eine Plattform von ihren Nutzern abschneiden würde in diesem Fall „das Gesetz“, wie Breton weiter hervorhob, nicht „eine Person, ein Staat“ oder „eine Behörde“. Schon jetzt gebe es einen „spezifischen Rat“ auf EU-Ebene, der mit diesen Fragen betraut sein werde und offenbar „sofort“ aktiv werden kann. In dieser vermutlich recht kleinen Runde wird man künftig über Wohl und Wehe der sozialen Medien in der EU entscheiden. Das kann man schon unheimlich finden. Dann muss einem aber auch der Ist-Zustand von Facebook und teils Twitter missfallen, in dem das Löschen und Unterdrücken von unliebsamen Nachrichten an der Tagesordnung ist.

Auch Breton kritisierte übrigens einmal mehr – wie viele andere vor ihm – das Grundprinzip sozialer Medien, die Erzeugung viraler Inhalte. Laut Breton verstärken die Algorithmen der Programme diese viralen Inhalte. Der EU-Kommissar würde sie demgegenüber wohl lieber geschwächt sehen und die „ordnende“ Hand der Politik gestärkt. Aber was wird dann aus der Meinungsfreiheit, zumal wenn man die schwierige Abgrenzung der „hasserfüllten Inhalte“ von anderen bedenkt. Ist nicht der Hass des einen die Liebe des anderen? Was ist mit den großen Dramen der Hassliebe, bekannt aus der Weltliteratur?

Vom 25. August an müssen die großen Digital-Firmen wie der Facebook-Konzern Meta, Twitter und andere gegenüber der EU-Kommission „nachweisen, dass sie Schritte unternommen haben, um das Gesetz durchzusetzen“. Zuckerbergs Meta-Konzern soll dafür bereits die zusätzliche Einstellung von 1.000 Personen angekündigt haben. TikTok und Snapchat seien im Vergleich noch nicht so weit, so Breton. TikTok soll nächste Woche einem Stresstest unterzogen werden, den Twitter schon durchlaufen hat. Ach so, war das die Erklärung für die temporären Nutzungseinschränkungen, die unglücklich mit dem Ausbruch der französischen Unruhen zusammentraf?

In Frankreich scheiterte schon die „Loi Avia“ mit ähnlichem Inhalt

Nun lobte sich aber trotzdem eine Vertreterin von Snapchat vor der Nationalversammlung, ihre Firma habe während der Unruhen bereits Inhalte zensiert. Laut dem Figaro war das auf Snapchat und TikTok der Fall.

 

Daneben zielt der Digital Services Act auf eine Reihe von anderen Plattformen wie AliExpress, Amazon, den AppStore, Bing, Booking.com, die verschiedenen Google-Dienste (wie Search, Play, Maps, Shopping), Instagram, LinkedIn, Pinterest, Wikipedia, Youtube oder auch den Modeversand Zalando. Sie alle müssen bald die EU-Regeln zur „Hassrede“ – eine wie bekannt sehr politische Begrifflichkeit – einhalten. Der 25. August als Beginn der Anwendung stand seit einem Beschluss vom April dieses Jahres fest, hat also nicht direkt etwas mit den französischen Unruhen zu tun.

Zu den Vorbildern des EU-Digitalgesetzes gehört das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Doch das EU-Gesetz geht über das NetzDG hinaus, wenn es das Abschalten ganzer Plattformen ermöglicht. Das nimmt Maß an wirklichen Autokratien dieser Welt – etwa China, Türkei oder Iran. Wenn das die Liga ist, in der die EU in Sachen Bürgerrechte mitspielen will, dann darf man den europäischen Demokratien schon etwas lauter gute Nacht sagen.

Die parallele französische „Loi Avia“ – letztlich auch ein Projekt Emmanuel Macrons – wurde 2020 übrigens vom Verfassungsrat aufgehoben und in allen wichtigen Punkten als nicht verfassungsgemäß beschrieben. Nun sollen also ähnliche Regelungen zum Löschen von digitalen Inhalten durch die EU-Hintertür nach Frankreich gelangen. Auch so kann man eine Demokratie entkernen. Aber wie lange wird das gut gehen? Denn was im nationalen Gesetz der LREM-Abgeordneten Laetitia Avia nicht verfassungskonform war, kann es als EU-Gesetz ebensowenig sein.

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