von Ab Gietelink

Ab Gietelink: Sie sind mit der Woke-Bewegung verbunden. Wie stehen Sie jetzt zu diesem Thema?

Laurens Buijs: Ich habe viel von der Woke-Bewegung gelernt. Beim Konzept des „Weißseins“ geht es beispielsweise nicht um die Hautfarbe, sondern um die weiße, imperialistische westliche Kultur, die sich selbst zur Norm macht und nicht erkennt, wie exklusiv und unterdrückend sie ist. Die Idee des Woke-Gedankens ist, dass die marginalste Stimme — „eine farbige Transgender-Person mit Behinderung“ (er lächelt) — durch die gelebte Erfahrung all dieser Achsen der Unterdrückung besser als jeder andere weiß, wie die Gesellschaft, der Kapitalismus oder die Heteronorm funktionieren. Der Woke-ismus ist eine sehr radikale Gerechtigkeits-Bewegung, die ihre Wurzeln in verschiedenen Sozialstudien hat.

Ist sie auch eine Form der Selbstkritik an der westlichen Gesellschaft?

Definitiv. Dabei stelle ich jedoch fest, dass Woke-ismus leicht in Hass umschlagen kann, und das ist meine Sorge. Kritik darf sehr weit gehen, aber Hass ist absurd. Mit einer zwingenden Doktrin kann Woke dogmatisch werden. Es ist ein seltsames Paradoxon, dass es innerhalb des Woke-ismus zwar viel Raum für Vielfalt gibt, aber nicht für Meinungsvielfalt.

Wenn man zum Beispiel rechts ist oder man hinterfragt die Klimawissenschaft, die Corona-Politik oder den Krieg in der Ukraine, kann man sehr schnell mit heftigen negativen Reaktionen rechnen und beschuldigt werden. Sie sind dann sofort pro-Putin, anti-Vax oder Neo-Nazi. Wenn Sie aus dem Gleichschritt geraten, werden Sie „gecancelt“.

Wie bemerken Sie diese Cancelculture?

Man merkt es sehr direkt. Ich arbeite seit 2007 an der UvA und habe vorher dort studiert, aber in dem Moment, als ich mich gegen die Corona-Maßnahmen aussprach, wurde ich scharf angegriffen. Ich habe meine Kritik auf der Basis meines Fachgebiets der Technikphilosophie und den Aussagen des französischen Philosophen Bruno Latour heraus formuliert. Latour untersuchte die Rolle von Wissen und Macht bei der Entwicklung von Techniken. Gleich zu Beginn von Corona sah ich eine großartige Fallstudie. Ich dachte, ich werde das einfach unterrichten.

Meine Studenten fanden es fantastisch, mal etwas anderes zu hören. Mit einer wissenschaftlich fundierten Kritik, die sich auf Latours Technikphilosophie stützt, konnten sie Kritik üben, ohne als Anti-Vaxer oder Schwachkopf abgetan zu werden. Aber wenn man eine solche wissenschaftliche Geschichte auf Facebook postet, steht sofort eine Gedankenpolizei bereit, zu der auch die Kollegen gehören, und alle fallen über einen her. Ich wurde persönlich heftig angegriffen. Worte wie Nazi machten die Runde. Ich selbst habe auch Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg gezogen, weil die Corona-Politik auf ein totalitäres Regime zusteuerte, aber meine Gegner haben dann die Verbindung zur Holocaust-Leugnung hergestellt.

Aber gibt es nicht auch viele differenziert denkende und kritische Menschen in der Universitätswelt?

Persönlich haben mir einige zugestimmt, aber im offiziellen UvA-Kreis galt ich einfach als „schlecht“. Niemand wagte es, aufzustehen. Die Menschen haben Karrieren, Hypotheken, Kinder und sind auf Forschungsteams angewiesen. Wenn Sie etwas Falsches sagen, können Sie Ihre Karriere verlieren.

Was hat sich in den letzten 15 Jahren an der UvA entscheidend verändert?

Eine große Liberalisierung. Als ich als Student dorthin kam, hatte die UvA im positiven Sinne etwas Unschuldiges, Kleines, so richtig Holländisches. Es war ein bisschen unübersichtlich mit verschiedenen Gebäuden, die über die Stadt verstreut waren. Jeder Professor hatte sein eigenes kleines Reich. Viel Freiheit mit verschiedenen Stimmen. Es gab viel zu tun, und ich fand es toll. Ich bin wirklich ein UvA-Mensch.

Ab 2013 zog die UvA-Sozialwissenschaft jedoch in das neue, hochmoderne Gebäude auf dem Roeterseiland. Die Geisteswissenschaften wurden fast vollständig „saniert“. Letzteres war auch der Auslöser für die Besetzung des Mägdehauses (Maagdenhuises) im Jahr 2015, an der ich als Aktivist beteiligt war. Es kamen immer mehr internationale Studenten und Forschungsgruppen mit internationalen Geldern. Englisch wurde die Unterrichtssprache. Die UvA hat mithilfe der Deutschen Bank eine Umstrukturierung durchgeführt.

Die UvA wurde zu einer globalistischen Institution?

Ja. Ich habe jetzt einen kritischen Bericht über die UvA geschrieben und mich dabei auf die Whistleblower-Verordnung berufen, auf die der Vorstand nun reagieren muss. Ich möchte nicht zusehen, wie das Zelt abgerissen wird.

Nennen Sie bitte diese Missstände.

Ich möchte dabei diskret vorgehen. Meine Kritik steht in dem Whistleblower-Bericht, und wenn ich etwas davon durchsickern lasse, verliere ich meine Immunität.

Können Sie in allgemeinen Worten etwas dazu sagen?

Wenn ich bestimmte Positionen vertrete, kann ich der Diskriminierung bezichtigt werden. Zum Beispiel in der Diskussion über „Nicht-Binarität“. Ich halte dieses Konzept für pseudowissenschaftlich, habe es recherchiert und in einem wissenschaftlichen Artikel beschrieben.

Sie kritisieren die Nicht-Binarität, erkennen aber den Drang zur Transsexualität an?

Ja. Die Nicht-Binarität ist meiner Meinung nach ein Trugschluss. Die Geschlechtsdysphorie aber ist wissenschaftlich untermauert. Die überwiegende Mehrheit der Transgender-Personen möchte sich dem anderen Geschlecht zuwenden. Nicht-Binarität fällt zwischen das Land und das Schiff, aber von der Gesellschaft zu verlangen, dass sie geschlechtsneutrale Toiletten einrichtet und Pronomen ändert, ist übertrieben und schädlich.

Ist die Nicht-Binarität eine Zwischenstufe?

Ja, das kann sein. Ich bin für die Emanzipation der Transsexuellen. Dafür gibt es eine wissenschaftliche Begründung. Ich weiß, wie schwer es diese Menschen haben und denke, lass sie in Ruhe. Es gibt eine sehr kleine Gruppe von Transsexuellen, abgesehen von Androgynen und Hermaphroditen, aber wir müssen bei Kindern in den Gymnasien keinen riesigen nicht-binären Zirkus veranstalten, die dann denken, das sei Emanzipation.

Viele Eltern haben ein Problem damit, dass der Klassenlehrer den Kindern sagt: „Du kannst sowohl ein Junge als auch ein Mädchen sein.“ Sind Sie mit dieser Kritik einverstanden?

Ja. Ich denke nicht, dass wir dem eine wissenschaftliche Legitimation geben sollten. In manchen wissenschaftlich-soziologischen Kreisen reicht die „persönliche Erfahrung“ aus, und ich bin damit nicht einverstanden. Manche Menschen glauben auch, die Erde sei flach. Man hilft den Menschen auch, wenn man das leugnet.

Wie hoch schätzen Sie den Prozentsatz der Menschen mit einer Form von Geschlechtsdysphorie?

Ich denke, 2 bis 3 Prozent. Manche dauerhaft, manche vorübergehend. Wenn man anfängt, diese vorübergehende Gruppe zu behandeln, wollen sie später in ihr ursprüngliches Geschlecht zurückkehren, also muss man damit sehr vorsichtig sein. Man braucht einen guten diagnostischen Rahmen, um Geschlechtsdysphorie festzustellen, und wir haben diesen Rahmen.

Aber dann kommt D66 (eine der drei Regierungsparteien in den Niederlanden, Anm. der Übersetzerin) mit einem Transgender-Gesetz, mit dem man das Geschlecht ändern kann, ohne mit einem Fachkundigen sprechen zu müssen. Das wird Transgender-Menschen nicht helfen. Die Transgender-Therapie erfordert für jeden Patienten eine intensive Untersuchung. Ich bekomme jetzt Post von Lehrern in meinem Briefkasten, die mir sagen, dass manche Schüler jede Woche etwas anderes sein wollen und dass sie nicht diskriminieren dürfen.

Ist es nicht viel zu einfach, jemanden der Diskriminierung zu bezichtigen?

Ja, und dafür bin ich zum Teil selbst verantwortlich. Als Jordan Peterson (kanadischer Professor, klinischer Psychologe und Publizist, Anm. der Übersetzerin) an der UvA eine Rede hielt, dachte ich auch: Wie kann dieser Mistkerl es wagen, hierher zu kommen? Aber ich habe jetzt mehr von ihm gelesen und habe ihm gegenüber die gleiche Ambivalenz wie gegenüber Thierry Baudet (Fraktionsvorsitzender Forum für Demokratie, eine der AfD ähnliche Partei, Anm. d. Übersetzerin).

Ich habe gehört, dass Baudet Sie persönlich angerufen hat?

Ja, ich dachte, was passiert jetzt mit mir? Thierry Baudet!? Ich habe ihm für seine Kritik an der autoritären Corona-Politik gedankt, aber auch gesagt, dass ich mich in einigen Punkten über ihn ärgere. Er antwortete: „Das ist es, was die Niederlande brauchen, dass wir unterschiedlicher Meinung sein können, ohne uns gegenseitig zu canceln.“ Wir brauchen in der Tat einen guten Raumbedarf, einen „freien Raum“. Vielleicht sollten die Studenten auch eine Schulung in Widerstandskraft erhalten, um eine Debatte führen zu können. Jetzt drücken sie sofort die Löschtaste, sobald sie sich verletzt fühlen.

Setzen sich Ihre Kollegen nicht für die Freiheit der akademischen Debatte ein?

Ich sehe und höre sie nicht. Die Professoren Michaela Schippers und Paul Cliteur (beide stehen auch wegen ihrer Standpunkte zu Corona unter Druck, Anm. d. Übersetzerin) sind zu mir gekommen. Wir sollten nicht tatenlos zusehen, wie unsere Universitäten zerstört werden. Ich liebe die UvA.

Was sind Ihrer Meinung nach die beunruhigendsten Entwicklungen?

Die Gedankenpolizei, die Bekämpfung von grenzüberschreitendem Verhalten, die Besessenheit nach sozialer Sicherheit, Antidiskriminierung, Bekämpfung von Fake News. In Wirklichkeit geht es um immer mehr Repression. Die Verfahren schützen das „Opfer“, aber es gibt kein Bewusstsein dafür, dass diese Verfahren für ideologische Säuberungen und Abrechnungen missbraucht werden können.

Ist das den Studenten nicht klar?

Die Studenten sind sich dessen nicht bewusst. Ich habe von rechtsgerichteten Studenten die Rückmeldung erhalten, dass sie sich in meinem Unterricht auch nicht immer sicher fühlen. Wir brauchen eine Debatte, in der auch Rechte, Verschwörungstheoretiker und Klimaskeptiker willkommen sein sollten. Wir müssen es wagen, unsere eigenen Vorurteile zu reflektieren.

Was sind Ihrer Meinung nach die beunruhigendsten Trends in der Welt?

Ich sehe den Aufbau eines globalen totalitären Staates, der von einer neoliberalen Elite gesteuert wird. Das System filtert mächtige Leute heraus, denen ich die Erde nicht anvertrauen möchte.

Ich bin ein Junge der PvdA (vergleichbar der SPD in Deutschland, Anm. d. Übersetzerin), aber ich werfe allen linken Parteien vor, dass sie ihre ideologischen Federn verloren und die breite Basisbewegung im Stich gelassen haben. Wir haben jetzt Linke, die auf die normalen Menschen herabsehen und sie als „rechtsextrem“ bezeichnen.

Es scheint, als ginge es der Linken nicht mehr darum, das Establishment zu kritisieren, sondern die Gruppen, die das Establishment kritisieren.

Das ist eine wichtige Erkenntnis. Ich vermisse die Einsicht, dass im neoliberalen System der pharmazeutisch-industrielle Komplex und der militärisch-industrielle Komplex nach rücksichtslosen Profitmodellen arbeiten.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien in De Andere Krant am 4. Februar 2023 unter dem Titel „Woke biedt veel ruimte voor diversiteit, maar niet voor diversiteit van meningen. Er wurde von Esther van Loo übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.

von Rubikons Weltredaktion

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Quelle:
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